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Charles Linsmayer: 20/21 SYNCHRON. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020

Umschlag (Gestaltung: Urs Bolz, mit Zeichnungen von Claudio Fedrigo)

Was für ein Wurf, dieses Lesebuch! Charles Linsmayer lädt uns ein zu einer Entdeckungsreise durch 100 Jahre Schweizer Literatur. Als langjähriger Literaturvermittler, der als Literaturkritiker und Herausgeber die Schweizer Literatur  bestens kennt, kann er aus dem Vollen schöpfen. Wie er das tut, ist überzeugend: Die Textauswahl ist sehr breit. Zudem schenkt er uns viele Originaltexte weiter, die er dank seiner guten Vernetzung in der Literaturszene eigens für dieses Lesebuch erhalten hat. Und in 135 Autor:innenportraits bringt er das, was Leben und Werk einer Autorin, eines Autors ausmacht, auf den Punkt. 

Ein wunderbares Lesebuch 


Lesend machen wir uns auf den Weg, bestehen wir Abenteuer, denken uns tiefer in andere Lebensmuster hinein und nähern uns zugleich dem eigenen mehr und mehr. 

Klaus Merz (Lesebuch, S. 505)



Meine Besprechung steht unter diesem Motto

In seinem Nachwort legt Linsmayer offen, was für ihn bei der  Auswahl wichtig war. Er steht dazu, dass auch persönliche Vorlieben eingeflossen sind. Und es ist ja auch klar, dass man mit einem so breit angelegten Lesebuch nicht alles abdecken kann. Deshalb wäre es daneben, hier besserwisserisch Autor:innen aufzuzählen, die ich mir in diesem Lesebuch auch hätte vorstellen können. Sondern ich will es von der Vielfalt dieses Lesebuchs einfangen. Denn die Vielfalt des literarischen Schaffens in der Schweiz, die die uns Charles Lichnsmayer aufzeigt, ist eindrücklich. Besonders attraktiv für die Lesenden ist die thematische Gliederung des Lesebuchs. Linsmayer  hat 18 Themen gewählt  -  Väter und Mütter, Frauen im Aufbruch, Kriegszeiten, Zwischen Verhängnis und Vision sind nur einige wenige Beispiele. 

Der Titel 20/21 SYNCHRON ist Programm. Linsmayer setzt in den einzelnen Themenbereichen die Texte synchron zueinander in Beziehung.

Dieses deutschsprachige Lesebuch enthält deshalb eine Vielfalt von Texten:

  • Prosa und Lyrik
  • Literatur in deutscher Standardsprache und Mundart
  • Aus dem Französischen, Italienischen und Rätoromanischen ins Deutsche übersetzte Texte
  • Texte über die Schweiz und solche über viele Orte weltweit
  • Texte von weltbekannten Schweizer Schriftsteller:innen und sehr lesenswerte Texte von Aussenseiter:innen.


Das Lesebuch ist der 40. Band der Reihe "Reprinted by Huber" im Th. Gut Verlag Zürich - eine von Linsmayer herausgegebene Reihe. Und es zeigt, wie klug und umsichtig er als Herausgeber arbeitet. Linsmayer lässt die Texte sprechen und gebärdet sich bei den Autor:innenportraits nicht als harscher Literaturkritiker. Derzeit gibt es m.E. kaum einen besseren Kenner der Literatur der mehrsprachigen Schweiz. Geprägt durch eine Internatskindheit in der Romandie hat der Deutschschweizer Linsmayer eine besondere Affinität für die Literatur aus der Welschschweiz und auch ein ausgeprägtes Bewusstsein für literarische Übersetzungen.

Das alles macht das Lesebuch so einladend. Ich kann allen nur wärmstens empfehlen, sich mit Charles Linsmayer auf diese literarische Entdeckungsreise durch die mehrsprachige Schweiz zu begeben. 

Texte zum Schmunzeln - Texte zum Nachdenken

Selten habe ich beim Lesen einer Anthologie so oft geschmunzelt, selten habe ich nach einzelnen Lesebuchtexten so viel nachgedacht und noch nie habe ich ein Lesebuch mit solcher Neugierde, was da wohl alles auch noch drin steht, von A bis Z gelesen.

Im Kapitel Den Schalk im Nacken (S. 377-404) finden wir viele Texte zum Schmunzeln.  Ich kann hier nur einige wenige davon  herausgreifen:  So befasst sich der Genfer Dandy Charles-Albert Cingria (1853-1954) in "Der integrale Mensch ist Radfahrer" mit der in den 1930er Jahren neuen Mode des Fahrradfahrens in Paris.  Cingria streut kritische Bemerkungen zu Politik und Gesellschaft ein - das Ganze ist mit leichter Hand geschrieben. Wenn Cingria über den "Kleiderluxus" dieses neuen Sports der Elite spricht, bekommt sein 1938 publizierter Text einen Aktualitätswert. Auch Pedro Lenz (geb. 1965) geht in seinem Mundarttext "Dä Räschte, wo im Tassli blibt" von etwas ganz Kleinem, Alltäglichen aus - er lässt jeweils einen Schluck in seiner Kaffeetasse stehen. Und kommt darüber ins Sinnieren, ob es nicht besser wäre, nicht immer allen Sachen auf den Grund zu gehen. Ein einfacher, unprätentiöser Text mit Tiefgang. Laure Wyss (1913-2002) nimmt in ihrer Kurzgeschichte "Eine Frau, ein Mann, ein Hund" ein älteres Paar in den Blick, dessen Beziehung nicht gut gealtert ist. Die stilistische Knappeit, die Lakonik und die Schlusspointe sind eindrücklich. Linsmayer würdigt Laure Wyss im Autorinnenporträt als eine der "brillantesten Journalistinnen der Schweiz" und als spätberufene Autorin von Belletristik, die als "Mensch der Aufklärung" mit ihrem Schreiben etwas bewirken wollte. Eine Trouvaille ist auch Hermann Burgers (1942-1989) "Die Leser auf der Stör". Mit phantastischen Einfällen und ad absurdum getriebenen Szenen nimmt der Autor den Literaturbetrieb satirisch aufs Korn. Da gibt es z.B. einen "Coiffeur", der die Bücher durchkämmt und ihnen Eselsohren macht, damit schliesslich alle Bücher in der Bibliothek gleichmässig gelesen aussehen, auch wenn sie nur beurteilt, aber nicht gelesen worden waren.


Dann kam die Nacht
ohne Ankündigung
Sterne traten auf ihre Bahn
Und Du, o Gott
warst mir sehr nah.

Luisa Famos (Letzte Strophe von "Der Flügel des Todes". Lesebuch, S. 173, aus dem Rätoromanischen übertragen von Anna Kurth und Jürg Ammann)




Andere Texte rütteln auf wie der Auszug aus "Le grand cahier" ("Das grosse Heft" ), dem Romandebut von Agota Kristóf (1935-2011). Die beim Ungarnaufstand vertriebene Kristóf kam 1956 in die Romandie. Sie erzählt in einer ganz einfachen Sprache vom Grauen des Kriegs, von traumatischen Erfahrungen wie Inzest und Gewalt. Zu Recht würdigt Linsmayer Kristóf als "grosse Autorin". Auch andere Texte lassen einen nachdenklich zurück wie das letzte Gedicht der Engadiner Autorin Luisa Famos (1930-1974), die sehr jung an Krebs gestorben ist. Linsmayer hat bei der Textauswahl eine Vorliebe für Literatur, in denen es um Existenzielles in Alltäglichem geht. Da wird nichts platt ausgewalzt, sondern mit gut erzählten Geschichten und poetischer Dichte wird  für die Lesenden etwas erfahrbar. In anderen Texten kommen mit surrealen Mitteln reale Bedrohungen und Ängste zur Sprache . So z.B. "Die Käferwohnung" von Adelheid Duvanel (1936-1996) - ein verstörender Text einer grossartigen Erzählerin.




 Charles Linsmayer als Brückenbauer zwischen den Sprachen

Und plötzlich stellt man fest, man ist ... gebürtig aus einem sprachlich völlig  entgegengesetzten Land, nicht wahr, das ist doch verblüffend.   

Blaise Cendrars (S. 277)

Der französischsprachige Autor Blaise Cendrars (1887-1961)  beschreibt den Graben zwischen den Sprachregionen, den er anlässlich seiner Reise von der Romandie an seinen Deutschschweizer Bürgerort wahrnimmt. Er trifft etwas, das mich ebenfalls immer wieder verblüfft hat. Ich bin zum Beispiel in einem zweisprachigen Kanton aufgewachsen und habe an einer  zweisprachigen Universität gearbeitet. Doch obwohl die andere Sprache/Kultur  gleichermassen vor der Haustür zu finden war, fehlte oft ein enger kultureller Austausch. Erschwerend  kommt hinzu, dass die Umgangssprache in der Deutschschweiz regionale Mundarten sind und dass das Rätoromanische ebenfalls eine dialektale Unterteilung aufweist. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts nahmen in der Schweiz Bestrebungen zu, solche Gräben zuzuschütten. So brachte z.B.  das 1991 von Pierre-Olivier Walser herausgegebene "Lexikon der Schweizer Literaturen" einen sehr guten Überblick. Oder auch die 2013 erschienene Anthologie "Moderne Poesie in der Schweiz" (hg. von Roger Perret) zeigt, dass Literatur aus allen Sprachgebieten in den Blick genommen wird. Bei diesen Bestrebungen ist Linsmayers Lesebuch ein weiterer Meilenstein. 

Linsmayer ist nicht nur selber ein Brückenbauer zwischen den Sprachen, sondern er macht auf andere Brückenbauer:innen aufmerksam. So z.B. auf die Genfer Autorin Yvette Z'Graggen (1920-2012), die nicht nur als Erzählerin, sondern auch als Literaturvermittlerin am Radio, als Herausgeberin und als Übersetzerin von Annemarie Schwarzenbach oder Max Frisch bekannt wurde.

Linsmayer würdigt in SYNCHRON 20/21 oft die literarische Übersetzungstätigkeit. Etwa Philippe Jacottets (1925-2021) Übersetzungen vom Deutschen (z.B. Ingeborg Bachmann) und Italienischen (Giuseppe Ungaretti) ins Französische. Eigens für dieses Lesebuch sind mehrere Texte übersetzt worden. 

Ab und zu zeigt Linsmayer sogar einen Textauszug in der Originalsprache und in der deutschen Übersetzung. Bei folgendem Textbeispiel stellt sich die Frage: Wie übersetzt man ein italienisches Gedicht, das aus lauter Wörtern besteht, die mit M beginnen, ins Deutsche? Linsmayer würdigt sowohl dessen Autorin Donata Berra (geb. 1947) als auch die bemerkenswerte Übersetzungsleistung von Christoph Ferber.  

Mitternacht mahnt. Muntere Männer,
Möchtegern-Machos, Musketiere mit Muskeln
machen Mädchen
mürbe.

Übersetzung Christoph Ferber
ebd.

Mezzanotte minaccia Masche mordaci
millantanto meraviglie:
magnifici muscoli, membri muschiati ... misericordia!

Auszug aus dem Gedicht "Maddalena" von Donata Berra (S. 428)

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Spannende Autor:innen-Portraits 

SYNCHRON 20/21 enthält 135 Autor:nnenporträts. Jeder Person ist eine Seite gewidmet. Das sind nicht etwa trockene Lexikonartikel,    sondern es sind ehrliche Annäherungen an Menschen und ihr Werk. Wir lernen den einzelnen Menschen in seiner Zeit, in seiner individuellen Lebenssituation und seinen Beitrag zur Literatur besser kennen. Linsmayer erhebt jedoch nicht einen Volllständigkeitsanspruch wie bei einem Autor:innenlexikon, sondern es ist eine Auswahl. 

Linsmayer würdigt jede einzelne Person wohlwollend und wertschätzend. Das zeigt sich z.B. am Portrait von Zoë Jenny (geb. 1974) Ich war mit im übervollen Saal als Jenny an den Solothurner Literaturtagen aus ihrem Romanerstling "Das Blütenstaubzimmer" (1997) las. Wie die junge Autorin damals zur Bestsellerautorin hochgejubelt wurde, wie sie anschliessend darunter litt und wie sie erst 2013 wieder Vertrauen fassen konnte in ihren eigenen literarischen Ton - das alles beschreibt Linsmayer behutsam. Nach diesem Portrait versteht man viel besser, wie der Literaturbetrieb eine junge Frau in eine tiefe Schaffenskrise stürzen kann. Genau dieses Wohlwollen kombiniert mit einer konstruktiven Kritik macht Linsmayers Tätigkeit als Literaturvermittler aus. Kein Wunder, dass ihm so viele Autor:innen für dieses Lesebuch Originaltexte geschenkt haben. Und bei diesen Geschenken sind ganz viele, die das Schaffen dieser Person ausmachen. So Hanna Johansens (geb. 1939) "Die Buntstiftschachtel", eine Kindheitsgeschichte im Krieg mit den Bombenangriffen auf Bremen 1944. 

Trotz allem Wohlwollen liegt Linsmayer den Autor:innen nicht etwa lobend und anbetend zu Füssen. Wenn er etwas kritisch anmerkt oder wenn er Fragen hat, drückt er dies aus wie z.B. im Porträt von Lukas Bärfuss (geb. 1971): "Ob Bärfuss, der die Schweizer Literaturszene lustvoll aufmischt, als schnell verglühender Meteor oder als lang leuchtendes Gestirn in die Literaturgeschichte eingehen wird, kann zur Zeit noch niemand beantworten." 

Manchmal hätte ich mir bei den Autor:innenporträts etwas mehr Symmetrie zwischen der Darstellung von Männern und Frauen gewünscht. Bei den Schriftstellerinnen erwähnt Linsmayer oft mehr Privates.  Besonders auffällig wird dies bei Ehepaaren. So wird Hanna Johansen zwar als grosse Autorin gewürdigt, und es wird beschrieben, wie sie zu Unrecht im Schatten ihres Ex-Mannes Adolf Muschg  gestanden habe. In Adolf Muschgs Portrait hingegen figuriert Johansen nicht namentlich. 

Machen wir die Probe aufs Exempel bei den Portraits von Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) und Robert Walser (1878-1956): Linsmayer schält Wichtiges heraus, er situiert umsichtig und klug. Wir müssen keine leeren, überrissenen Behauptungen lesen, sondern wir finden Belege, die in keinem anderen Autor:innenlexikon stehen. Und jedes einzelne Portrait ist gut lesbar.

Die eingefügten Fotoportraits sind übrigens sehr schön. Viele stammen von Yvonne Böhler und Manfred Utzinger. Beide haben sich mit Fotos von Schriftsteller:innen einen Namen gemacht. 


Entdeckungen, Trouvaillen und überraschende Informationen

Wir lernen in den Portraits auch Aussenseiter:innen des internationalen Literaturbetriebs kennen. So lesen wir etwa von Frauen, die frei leben woll(t)en, nicht eingeengt von bürgerlichen Zwängen wie von Cilette Ofaire (1891-1964), der ersten Schweizer Hochseekapitänin. Linsmayer hatte 1988  als Herausgeber der Reihe "Reprinted by Huber" für die deutsche Ausgabe des Romans "Ismé" - so hiess ihr Schiff - gesorgt. Oder von Carl Albert Loosli (1877-1959). Der auch als "Philosoph von Bümpliz" bekannte Schriftsteller kämpfte engagiert gegen Antisemitismus und für eine eine bessere, gerechtere und demokratische Schweiz. Auch von jüngeren, noch nicht so bekannten Deutschschweizer Autor:innen gibt es Trouvaillen im Lesebuch: etwa der Anfang des 2020 erschienenen Romans "Fünf Jahreszeiten" von Meral Kureshi (geb. 1983). Ein Roman mit einer ganz unverwechselbaren literarischen Stimme.

In Erinnerung bleiben mir auch einige Texte von bekannten Autor*innen, wie z.B. von Jacques Chessex (1934-2009). Sein "Monolog an die schlafende Geliebte" ist eine flammende Liebeserklärung und gleichzeitig deren radikale Widerrufung. Und es ist ein flammendes Glaubensbekenntnis und gleichzeitig dessen radikale Verneinung. Ein eindringlicher, starker Text. 

Auch die Begeisterung, mit der Charles Ferdinand Ramuz (1878-1974) den Anblick seiner heimatlichen Landschaft beschreibt, hat etwas Faszinierendes. Zu denken gibt indes der Hinweis, dass der zweimal für den Nobelpreis nominierte Ramuz zu Lebzeiten in der Deutschschweiz kaum bekannt wurde. 

Raphaël Urweiders (geb. 1971) lyrisches Tagebuch mit dem Titel "tropische trauer" werde ich nicht vergessen. Die fatale Explosion einer Raffinerie Südafrika im Dezember 2020 und ein Ich, das fast zerfliesst im tropischen Klima, verschmelzen zu einem erschütternden Gedicht, das auch über das Individuelle und Aktuelle hinaus bedeutsam ist.

In Anlehnung an des Eingangszitat von Klaus Merz komme ich zu folgendem Fazit: Mit dem Lesebuch SYNCHRON 20/21 von Linsmayer können wir  lesend Abenteuer bestehen, andere Lebensmuster entdecken und uns dem eigenen mehr und mehr nähern. Was wollen wir mehr?

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Yusuf Yeşilöz: Nelkenblatt

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Freitag, 19. April 2024