Willkommen beim Literaturblog von Elisabeth Stuck

Erika Burkart zum 100. Geburtstag

Am 8. Februar 2022 würde die bekannte Schweizer Autorin Erika Burkart 100 Jahre alt. Genau an diesem Tag hat "Erika Burkart - Eine Beschwörung"  Premiere im Berner Schlachthaustheater. Mit vielen weiteren Veranstaltungen und neuen Publikationen wird Burkart in diesem Jubiläumsjahr 2022 gewürdigt und neu zugänglich gemacht.  

Die beteiligten Verlage und die Autorinnengruppe RAUF haben sich zusammengetan und geben in einem Booklet einen Überblick über die Publikationen und Veranstaltungen zum Burkart-Jubiläumsjahr 2022.

Erika Burkart  - eine Performance von jungen Künstlerinnen

Erika Burkart - eine Beschwörung. Szenische Lesung mit Musik
Szenische Lesung: Tabea Steiner, Mariann Bühler,  Zo Hug, Anaïs Meier, Gianna Molinari, Katja Brunner, Michelle Steinbeck, Sarah Elena Müller, Eva Sack, Julia Weber.
Musik/DJ: Saskia Winkelmann

Premiere am 8.2.2022 im Berner Schlachthaustheater, 
anschliessend Tournee durch verschiedene Schweizer Städte mit wechselnder Besetzung

Dieser Beschwörungsabend bietet eine frische, unverkrampfte Annäherung an Erika Burkarts Texte. Das Autorinnenkollektiv RAUF hat eine Textcollage gemacht und führt diese als szenische Lesung mit Musik auf. 

Eindrücklich, wie diese szenische Lesung daherkommt! Vier Künstlerinnen lesen -  im Wechsel als Einzelsprecherinnen und im Chor. Eindringlich, ernsthaft und zuweilen auch mit einem ganz feinen Augenzwinkern lesen sie.  Sehr geschickt eingesetzte Wiederholungen von einzelnen Texten sorgen dafür, dass viele Wörter und auch die Musik noch lange nachklingen. Ich habe während der ganzen Vorstellung eine Stunde lang gebannt zugehört/zugeschaut. 

Im Vorfeld hatte sich das Autorinnenkollektiv RAUF folgende Fragen gestellt: Wer ist Erika Burkart? Was macht ihr Werk aus? Was lässt sich davon in unsere Zeit transponieren? 

Die Textauswahl für diesen Abend zeigt, dass vorgängig eine intensive Auseinandersetzung mit Burkarts Texten stattgefunden hat. Und die ganze Inszenierung erbringt den Tatbeweis: Es ist sehr Vieles in unsere Zeit transponierbar.

Die jungen Autorinnen von RAUF engagieren sich für einen breiten Kanon. Deshalb wollen sie 'alte Meisterinnen aus der Versenkung und/oder auf den Sockel holen'. Und sie sorgen wie hier dafür, dass Jubiläumsjahre von weiblichen Schreibenden gebührend begangen werden. Für das Jubiläumsjahr Erika Burkart tun sie das mit einer Performance. 

Zum Glück holt diese Aufführung Erika Burkart nicht als starre Denkmalfigur auf einen Sockel. Sondern macht einzelne Facetten von Leben und Werk dieser grossen Schweizer Autorin erfahrbar.

Ein Besuch lohnt sich!

Und wer keine Gelegenheit zum Besuch einer der Vorstellungen hat: Aufgeführt werden viele Texte aus dem Wortfächer, den Tabea Steiner (Autorin, Literaturveranstalterin und Jurymitglied von Schweizer Literaturpreisen) herausgegeben hat.



Erika Burkart - ein Wortfächer 

Tabea Steiner (Hg.): Erika Burkart. Fragmente eines Lebens Berlin, Bern: Verlag vatter&vatter 2022 (Wortfächer Autorinnen und Autoren) 


Der Wortfächer  Erika Burkart- Fragmente eines Lebens präsentiert uns auf den Fächerblättern Ausschnitte aus Burkarts Prosa. Von "Mein erster Garten" bis zu "Nicht allein zu sein" gibt es einiges zu entdecken.

Das Format Wortfächer ist eine Entwicklung des Verlags vatter&vatter. Es eignet sich bestens für die Darstellung des Fragmentarischen: Jedes Fächerblatt ist eines dieser Fragmente. Man kann den Burkart-Wortfächer in die Hand nehmen, und durchblättern. Man kann sich beim Auffächern auch überraschen lassen und bei einem einzelnen Moment dieses Dichterinnenlebens oder bei einem Gedankensplitter verweilen. In dieser Fächerform wirken die einzelne Texte wie Gedankensplitter, wie Aphorismen zuweilen. Eine gelungene Annäherung an die grosse Schriftstellerin für dieses Jubiläumsjahr -  für jüngere und ältere Lesende und für solche, die selten ein Gedicht lesen.

Die Gedichte werden immer kürzer
Hat auch immer mehr Platz darin.

Erika Burkart, zit. aus wortfächer

Erika Burkart - Das lyrische Gesamtwerk digital
 

Erika Burkart: Schönheit und Schrecken. Das lyrische Gesamtwerk. Hg. v. Ernst Halter. Zürich: Limmatverlag Zürich 2022. ausschliesslich digitale Veröffentlichung, rund 3700 Seiten. 


Der Limmatverlag und der Herausgeber Ernst Halter stellen mit dieser digitalen Ausgabe des lyrischen Gesamtwerks etwas sehr Nützliches zur Verfügung. Damit sind alle Gedichte für die Öffentlichkeit zugänglich. 

Man kann darin lesen, man kann damit wissenschaftlich arbeiten, man kann Texte für eine Textcollage suchen und später einmal eine andere szenische Lesung veranstalten, man damit kann neue Gedichtsammlungen herausgeben usw. usf. 

Oder man kann einem einzelnen Wort nachgehen. Mit der Suche nach dem für Burkart so wichtigen Wort "schweigen"  ist man  im Nu an den Textstellen, u.a. im Gedicht "Der Tod und die Frau". Es ist ein Gedicht, das für mich den Kern von Erika Burkarts Schaffen trifft:

Der Tod und die Frau
Für Ernst

Meister!
Rühr mich nicht an,
noch erreicht mich das Licht,
noch kann ich klagen,
das Schweigen befragen,
verstehe, was mitklingt, erwache,
verschreckt, an verschollenen Orten -
noch darf ich worten
aus meinem verlorenen,
nackten Gesicht.

Erika Burkart: Schönheit und Schrecken, S. 3529, aus: Das späte Erkennen der Zeichen (2010).

Erika Burkart - ein Band mit ausgewählten Gedichten 

Erika Burkart: Spiegelschrift. Gedichte - die großen Auswahl. Hg. von Ernst Halter. Zürich: Limmat-Verlag 2022.

Für das Erinnerungsjahr 2022 legt der Herausgeber Ernst Halter zudem  einen neuen gedruckten Gedichtband vor. 

Halter trifft eine sehr persönliche Auswahl für diesen Band. Aus dem Frühwerk hat Halter nur einzelne wenige Gedichte in Spiegelschrift aufgenommen. Denn Burkarts Frühwerk bezeichnet er als "epigonenhaft" und er macht geltend, dass Burkart erst in der Schaffensphase ab den 1960er Jahren poetisch innovativ geworden sei. Damit werden wichtige Gedichte ausgeschlossen. Burkart wurde schon mit den in den 1950er Jahren veröffentlichten Gedichten von der Literaturkritik wahrgenommen und gewürdigt. So erhielt sie beispielsweise  1957 den ersten Meersburger Droste-Preis. 

Zu berücksichtigen ist hier Ernst  Halters persönliche Verbundenheit mit Burkart. Sie war in zweiter Ehe mit Ernst Halter, selber auch Schriftsteller, bis zu ihrem Tod verheiratet. Halter hat sich immer wieder für die Herausgabe von Burkarts Werken engagiert. Spiegelschrift verstehe ich deshalb auch als Halters persönliche Hommage an seine Frau. Wer Gedichte lesen will, die in diesem Band  nicht aufgenommen wurden, kann nun zur digitalen Ausgabe des Lyrischen Gesamtwerks greifen.

Was wir in Spiegelschrift sehen können, ist Burkarts lebenslanges Kreisen um Themen wie die Vergänglichkeit, den Tod und das Fragen nach dem Göttlichen, das sie zusehends als etwas Verborgenes thematisiert.

Man findet nun im gleichen Band poetische Spuren vom Tod ihrer Mutter und von ihrer eigenen langen Krankheit und dem nahenden Tod. Erschütternd das Gedicht "Ort der Kiefer. Ein Requiem" - eine ungeschönte  lyrische Erinnerung an den Tod der Mutter. Daneben aus ihrem Spätwerk Gedichte über das eigene Altern. Auflehnung, Klage und Todesangst kommen hier ebenso zum Ausdruck wie das Aufscheinen von Hoffnung.

In Spiegelschrift finden wir viele Gedichte, die jemandem gewidmet sind. Burkart zeigte mit solchen Gedichten ihre Verbundenheit mit ihr wichtigen Menschen. Allen voran ihrem geliebten Ernst. Besonders gefallen haben mir die beiden Gedichte, die der grossen Schweizer Literaturkritikerin Elsbeth Pulver (1928-2017) gewidmet sind - z.B. "Die Droste" (Spiegelschrift, S. 237). Beim Wiederlesen des Gedichts, das Burkart zum Tod des Schriftsteller Hermann Burger (1942-1989) verfasst hatte, stockte mir auch diesmal der Atem (ebd. S. 299). Nach dem  Suizid des ebenfalls aus dem Aargau stammenden Schriftstellers und Freunds ringt Burkart um Worte für diesen lyrischen Nachruf. Burger liess in seinem Roman Brenner zwei Figuren auftreten, die Erika Burkart und Ernst Halter sehr ähnlich sind.

Und besonders gefallen hat mir die hintere Umschlagsklappe dieses Bands: Wir sehen ein Foto der jungen Erika Burkart. Eine sehr schöne Ergänzung zu den vielen uns bekannten und ebenfalls eindrücklichen Fotos der Dichterin aus späteren Lebensphasen! 



 Von "Luftwurzeln" und vom Verb "worten"  

"Luftwurzeln" und das Verb "worten" sind zwei Wörter, die sich mir aus Erika Burkarts Werk besonders eingeprägt haben. 

"Luftwurzeln" - ein Wort, das Erika Burkart an einer Lesung in der Aula der Universität Bern, die ich vor Jahrzehnten besucht hatte, mehrmals ausgesprochen hatte. Mit "Luftwurzeln" nimmt die Autorin sowohl die Erde als auch den Himmel literarisch in den Blick.Das Verwurzeltsein oder die Suche nach Wurzeln durchziehen Erika Burkarts Werk. Wurzeln in der der Herkunftsfamilie wie im Gedicht "Die Familienballade", die Verwurzelung im Haus Kapf (bei Muri AG) und in der aargauischen Landschaft wo Erika Burkart zuhause war, wie in ihrem ersten Roman Moräne. Nicht zu vergessen die zahlreichen Baum-Gedichte. So lehnt sie sich  in mehreren Gedichten dagegen auf, dass Bäume gefällt werden, weil etwas gebaut wird.  Gleichzeitig erweist sie mit diesem Nachruf in Gedichtform dem Baum als Lebewesen die letzt Ehre. 

Liebesmorgen
Wie Wurzel fassen im Tag,
da zwei eins war,
alle Enden sich Zusammenbogen,
der Kreis sich schloss.
...

Erika Burkart, Gedichtanfang zit. aus Spiegelschrift, S. 162
'Wurzel fassen' ist ein Bild, mit dem Burkart einen Moment in einer Liebesbeziehung einfängt.
"Luftwurzeln" meint auch das Licht und den Himmel. Und hier sind wir schon nahe am Verb "worten". Erika Burkart hat immer wieder versucht, etwas vom Himmel zu erfassen. Sie hat um Worte für Unaussprechliches gerungen, und sie hat uns dabei viele Wortneuschöpfungen oder ganz neu gebrauchte Wörter geschenkt. "Luftwurzeln" gibt es nämlich als botanischen Begriff. "Luftwurzeln" als poetisches Wort ist jedoch eine Kreation von Erika Burkart.

Nicht zu worten die Antwort.

Erika Burkart: Gedichtzeile aus "Familienballade", zit. aus Spiegelschrift, S. 86

Ein vielstimmiger Sammelband zu Erika Burkarts Werk

Ursina Sommer (Hg.): Im Gegenzauber. Spiritualität und Dichtung im Werk Erikas Burkarts (1922-2010). Theologischer Verlag Zürich 2022. 

Im Sammelband Gegenzauber kommen ganz viele Expert:innen und Wegbegleiter:innen von Erika Burkart zu Wort. 

So beschreibt Claudia Storz, die sich an ihre Begegnungen mit Burkart in verschiedenen Lebensphasen erinnert, Burkart als gute Zuhörerin. 

Das tut auch der Aargauer Schriftsteller Klaus Merz, der mit einfachen Worten eine sehr zutreffende Hommage, die zu Burkarts 80. Geburtstag erschienen war, beisteuert. 

Faszinierend die Notizen zum Gedicht "Weiss" der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ilma Rakusa mit dem sprechenden Titel "Die brennende Farbe des Schnees"


Die Herausgeberin, Ursina Sommer (Germanistin und Anglistin) zeigt in einem konzisen und gut lesbaren Vorwort auf, aus welchem Burkart-Text "Im Gegenzauber" stammt und spannt einen Bogen zwischen dem Thema "Dichtung" und dem Thema "Spiritualität".

In meiner Kindheit schwebte Gott als wunderbarer Adler über mir, kreisend entfernte er sich; nun, da man des rettenden Vogels (Heiliger Geist) am meisten bedürfte, schrumpft er, in immer ferneren Kreisen sich entziehend, ein, ist ein Strich, wird ein Punkt. Der lichtspendende Stern, der weisse Adler hat sich entwest zu einem Schwarzen Loch.
Seiner Saugkraft mich zu entziehen, mache ich, sozusagen im Gegenzauber, Worte.

zit. aus Gegenzauber, S. 9 (aus:  Am Fenster, wo die Nacht hereinbricht. Aufzeichnungen,  hg. v. Ernst Halter 2013)

Zum Thema des Sammelbands "Spiritualität und Dichtung" hat es Beiträge von Expert:innen aus:

- dem Schnittbereich Theologie - Literaturwissenschaft, z.B. von Andreas Mauz, der seit längerem in diesem Bereich arbeitet (kürzlich zu Kurt Marti mit der Ausstellung im Zürich Strauhof und als Co-Herausgeber des Buchs "Wortwarenladen")

- der Theologie (z.B. Pierre Stutz mit "Religiöse Spuren in Erika Burkarts Gedichtband Das späte Erkennen der Zeichen")

- der Literaturwissenschaft (z.B. Philipp Theisohn, der Erika Burkarts Rezeption von Stephan George nachgeht)

- der Literaturkritik und Literaturvermittlung (z.B. Tabea Steiner, Manfred Pabst).


Attraktiv dünkt mich der Band, weil darin auch bisher nicht veröffentlichte Fotos zu sehen sind (von Loretta Curschellas, Zürich und Heidi Widmer, Wohlen AG). 

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Freitag, 19. April 2024