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Yusuf Yeşilöz: Nelkenblatt

Yusuf Yeşilöz: Nelkenblatt. Roman. Zürich: Limmat Verlag, 2021.

Zwei Frauen, zwei Generationen, zwei Heimatländer  

Yusuf Yeşilöz erzählt in seinem Roman Nelkenblatt von zwei Frauen. Der pflegebedürftigen alten Elsa und ihrer Pflegerin Pina, einer jungen Migrantin. Die beiden so unterschiedlichen Frauen verstehen sich von Anfang an sehr gut. Elsa und Pina sprechen über Vergangenes, das sie gefreut und belastet hat.

Eine Fluchtgeschichte

Pina erzählt von ihrer Kindheit in einem Dorf – ihr Herkunftsland wird nicht explizit genannt – und von den Schwierigkeiten, die sie damals hatte, in die Stadt umzuziehen. Das war nötig, weil Pinas Mutter schwer nierenkrank war und Zugang zu einer Behandlung in einer Klinik benötigte. Und Pina erzählt von ihrer Flucht aus ihrem Heimatland aus politischen Gründen. Als Studentin hatte sie an Protestkundgebungen gegen die Beschneidung der Rechte von Frauen teilgenommen, musste ins Gefängnis und wurde vom Studium ausgeschlossen. Wegen drohender Repression musste sie ihre Heimat verlassen. Nach dem Asylverfahren in der Schweiz nahm sie ihr Studium wieder auf, musste dieses aber wieder unterbrechen, um Geld zu verdienen. Deshalb wurde sie als Pflegerin in einer privaten Spitexorganisation tätig. Ihr Fazit zu ihrer Flucht ist durchzogen: «'Wie jede Fluchtgeschichte ist auch meine schmerzhaft, aber der Beginn war hoffnungsvoll'» (22), sagt sie zu Elsa.

Liebes- und Familiengeschichten

Die beiden Frauen unterhalten sich auch sehr offen über ihre Liebesbeziehungen zu Männern – Elsa über ihren eigentlich fast immer abwesenden Ehemann, Pina über ihre Freunde. Auffällig sind die offenen und schalkhaften Bemerkungen über Erotisches, die der Autor der alten Frau Elsa in den Mund legt. Mit wenigen Worten deutet Pina auch schwierige Erfahrungen mit Männern an. Sie hat erlebt, wie jemand eine hierarchische Stellung für sich privat ausnutzt. So hatte Pina in der Schweiz eine mehrjährige Paarbeziehung mit einem Mann, den sie als Mitarbeiter während ihrem Asylverfahren kennengelernt hatte. Zur Sprache kommen auch Brüche in ihren Familien, heikle Beziehungen zwischen Geschwistern, zwischen Eltern und ihren Kindern. 

Eine Pflegebeziehung mit Tiefgang und Humor

Beim Lesen staunte ich über den ungewöhnlichen Humor in dieser Pflegebeziehung. Pina hat es mit der zuweilen sehr eigenwillig und stur auftretenden Elsa zu tun. Doch Pina gelingt es immer wieder, Elsa zum Lachen bringen, z.B. mit Geschichten und Märchen aus ihrem Heimatland. So erzählt Pina ein Märchen über lachende Bäume und die heilende Wirkung von Granatapfelbäumen «'Können Granatapfelbäume lachen, Pina?'» (18) Das ist keineswegs harmonisierend erzählt, denn Elsas Stimmung kippt nach diesem gemeinsamen Lachen gleich wieder, weil sie keine Hoffnung auf Heilung hat und ihren baldigen Tod vor sich sieht. Pina hat sehr viel Verständnis für Elsa. Ihre Geduld mit der Patientin beruht auch auf ihrer Erfahrung mit ihrer jahrelang schwer kranken Mutter. 

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Roman auch Elsas Tochter Luzia Sie wird als erfolgreiche Juristin mit strengen Vorgaben für die Pflege ihrer Mutter geschildert. Pina nimmt sich die Freiheit, sich nicht an alles zu halten. Sie kocht für Elsa die kaum mehr essen mag, nicht die Krankenkost, die ihr Luzia vorgeschrieben hatte. So geniesst Elsa z.B. eine Yoghurtsuppe mit Minze nach einem Rezept ihrer Mutter. Es gibt zahlreiche Szenen, in denen eine heitere Komplizenschaft zwischen den beiden Frauen entsteht. Elsa wirkt zuweilen verschmitzt und schalkhaft, insbesondere wenn es ihr gelingt, die strengen gesundheitlichen Vorgaben ihrer Tochter zu umgehen. Dem Autor gelingt es zu zeigen, dass eine Frau am Lebensende schwächer wird und leidet, aber auch Momente erlebt, in denen sie das Leben geniesst. Wie beispielsweise in der Szene, wo Berta und Pina zusammen Wein trinken. 

Es ist eine Geschichte über das Sterben und den Tod 

Über Elsas Sterben und über Pinas Furcht vor Elsas Tod. Erinnerungen sind schmerzhaft und tröstlich zugleich. Pina, nach Elsas Beerdigung sehr traurig, schaut ein Selfie zusammen mit Elsa an. «Zwei Frauen, Schulter an Schulter, schauten beide zufrieden in die Kamera.» (156)
Es ist auch eine Geschichte über das Sterben und den Tod von Pinas Mutter. Man erahnt ohne viele Worte die Trauer einer Tochter, die aus politischen Gründen nicht in die Heimat zurückreisen konnte, um an der Beerdigung ihrer Mutter teilzunehmen.
Morbid ist der Roman aber keineswegs. Viele Momente wirken voll dem Leben zugewandt, ohne dass Elsas sich abzeichnender Tod verdrängt wird. So zeigt Elsa bis kurz vor ihrem Tod ein lebhaftes Interesse für Pina. Pina steht am Schluss des Romans vor einem Neuanfang. Als Lesende wissen wir nicht, welchen Weg sie nach dieser kurzen und intensiven Schicksalsgemeinschaft mit Elsa einschlagen wird. Aber wir wissen, dass Pina ganz viel Leben vor sich hat. 

Ein unprätentiöser Erzählstil 

Yusuf Yeşilöz erzählt unprätentiös, die Emotionen werden nicht larmoyant erzählt. Sehr differenziert erzählt finde ich die Beziehung zwischen Elsa und Pina, denn es hat Platz für viele Graustufen. Etwas überzeichnet wirkt dagegen Elsas Tochter Luzia. Bemerkenswert ist die Charakterisierung von Pinas Vater. Behutsam und verständnisvoll geht er mit seiner zuweilen rebellischen Tochter um. So verschweigt er eine Liebesbeziehung seiner adoleszenten Tochter und schützt damit Pina vor der aufgebrachten Reaktion in der Familie und im Dorf.
Hängen geblieben sind mir starke, ungewöhnliche Sprachbilder. Diese braucht Pina in wichtigen Momenten. Im Bewerbungsgespräch bei Elsa geht es unter anderem um Nelkenblätter. Diese seien so zerbrechlich wie ein Herz, meint Pina. Das gefällt Elsa so gut, dass sie sich auf ihre neue Pflegerin einlässt.

Was dieser Roman nicht ist 

Eine Warnung zu diesem Roman: Eine autobiographische Interpretation scheint zwar naheliegend, aber sie greift zu kurz. Der Autor ist Kurde, lebte bis zu seiner Flucht in einem Dorf in Westanatolien. Er musste wie Pina seine Heimat aus politischen Gründen verlassen und kam 1987 in die Schweiz. Indem Yusuf Yeşilöz eine weibliche Hauptfigur für die Migrationsgeschichte wählt, schafft er eine Distanz zum eigenen Erleben. Zudem verlegt er Pinas Kindheit an einen von seiner Heimat entfernten Schauplatz. Eigene Erfahrungen fliessen immer in das literarische Schreiben ein. Durch Yusuf Yeşilöz' Erzählkunst werden menschliche Grunderfahrungen für die Lesenden nachvollziehbar. Man kann beim Lesen von Nelkenblatt für eine Weile in die Schuhe von zwei Frauen mit ganz anderen Lebenserfahrungen schlüpfen. Und man kann sich dabei vorstellen, was diese beiden Frauen bewegt.

Ich habe Yusuf Yeşilöz am Literarischen Herbst Gstaad 2021 aus Nelkenblatt lesen und darüber sprechen gehört. Sein Auftritt passt zu seinem Roman: offen für die ihm gestellten Fragen, unprätentiös, behutsam, mit einem feinen Sinn für Humor – leise, aber klar und deutlich.

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Freitag, 15. November 2024