Willkommen beim Literaturblog von Elisabeth Stuck

Gedichte des Monats 3/22 von Ulrike Draesner und Klaus Merz

What is poetry?

Heute ist Welttag der Poesie. Was ist Poesie? Geht es ums "Putzen, Staubsaugen, Rotz abwischen" oder um "Denk-Fortsätze"? Gedichte können beides aufgreifen. Die Gedichte von Ulrike Draesner und von Klaus Merz zeigen uns das ganz eindrücklich.

what is poetry? In: Ulrike Draesner: hell&hörig. Gedichte. 1995-2020. München 2022, S. 71f. 

Ins Freie. In: Klaus Merz: Helios Transport. Gedichte. Mit fünf Pinselzeichnungen von Heinz Egger. Innsbruck/ Wien: Haymon Verlag 2016. S.52


Ins Freie

Gedichte sind Denk-
Fortsätze. Über das
Bedachte hinaus.

Klaus Merz

what is poetry?

putzen staubsaugen rotz abwischen geschürftes knie
bauch streicheln zum einschlafen oder wenn er wehtut
ein bettlied singen vorlesen die beine spreizen empfänglich
und tröstlich sein die wäsche in die trommel stopfen
schamhaare aus dem abfluß fischen zum zehnten mal
den klodeckel schließen die gesamten becher der familie
auf der spülmaschine abgestellt in die maschine räumen
fluchen aber unhörbar an die erziehung des mannes
denken jede erziehung aufgeben sich bücken den hund
füttern mensch ärgere dich nicht spielen wie ein trottel
endlich im bad tür von innen abschließen nach einer minute
riesengeschrei: rotz abputzen 
marmeladenbrot schmieren
marmeladenbrot vom teppich klauben badeanzüge
auswaschen selbst den ganzen tag nicht rausgekommen
hausschlüssel suchen multi-tasking bewundern
und verachten als mutti-tasking verhören toten vogel
vom fensterbrett schippen sich nicht ekeln ihn
in den garten bringen blick auf den sonnensturm
schmetterlinge das ganze zeug am tümpel (muss
auch endlich saubergemacht werden) libellen
für sekunden die spiegelung
sehen: sich selbst
halbdämmrig, klein

ein kind das die weißen
zähne zeigt, deine zähne

es ist dein körper
du weißt kein besseres wort
für das, was du siehst, lebendig
und von dir
unterschieden
weiß es mehr über dich als dir recht
sein kann es sagt: ich liebe
dich tiefer als einen wald

es sagt: dunkel ist das innere des mundes
und alles was denkt

Ulrike Draesner

Zwei Gedichte übers Dichten
 

Diese beiden Gedichte sprechen über das, was Dichtung ausmacht. ¨ Beide umfassen für mich ganz Wichtiges, was Gedichte vermögen: Sie zeigen, dass das Leben mit all seinen Facetten in Gedichten Platz hat - auch in poetologischen Gedichten.

Bei solchen Gedichten übers Dichten gibt es eine lange Tradition von gelehrter Gedankenlyrik, die den Alltag und das ganz Konkrete des Lebens ausblendet. 

Ulrike Draesner: Die Körperlichkeit des Poetischen 


Wie befreiend, dass Ulrike Draesner für ihr Gedicht "what is poetry?" nicht einen gelehrten, sondern einen ganz anderen Zugang wählt! Aufgezählt werden Alltagstätigkeiten einer Mutter, die mit Kinderbetreuung und Haushaltsarbeiten beschäftigt ist. 

Es ist nicht trivial, was diese Frau da alles gleichzeitig leistet. Und es fehlt die gesellschaftliche Ankerkennung dieses Multitasking. Wir erleben eine Frau, die um kleine Freiräume für sich allein kämpft. Und es gibt einen befreienden Moment, als die Frau sich selbst im Spiegelbild als Kind sieht. Auch dieser Freiraum ist im Gedicht als körperliche Erfahrung aufgenommen.

Diese Spiegelbild von sich selber als Kind hat in Ulrike Draesners auch eine philosophische Komponente: Sie erkennt sich selber im Spiegelbild und erkennt gleichzeitig, dass dieses Kind "lebendig und von dir unterschieden ist".  Das Kind hat zwar dieselbe DNA wie die erwachsene Frau, aber es unterscheidet sich von ihr. Mit dem Titel "what is poetry?"  ist für diese Stelle folgende Lesart möglich: Die Beziehung dieser Frau zu dem Kind ist eine Analogie für die Beziehung zwischen Dichter:in und Gedicht. Mir gefällt daran besonders gut, dass das Kind/das Gedicht ein unabhängiges Leben von der erwachsenen Person/Dichter:in hat. Und dass das Kind/Gedicht hier mehr von der Frau/Dichterin weiss, als es dieser recht sein kann. In diesem Teil des Gedichts erleben wir übrigens Ulrike Draesner sehr wohl als Denkerin, die mit der Tradition von poetologischen Gedichten bestens vertraut ist. 

Der Schluss mit "dunkel ist es im Inneren des Mundes/ und alles was denkt" erinnert in einem poetologischen Gedicht an Folgendes: In der Poesie ist nicht alles erklärbar. 

Schon vor längerem hat man sich in der Literatur vom Bild eines abgehobenen Dichterfürsten verabschiedet. Care-Arbeit und vielfältigen Rollen von Dichter:innen in der Gesellschaft sind in Gedichten salonfähig  geworden. Dichter:innen sind nicht nur Denker:innen, sondern auch Menschen aus Fleisch und Blut.  Dies drücken viele dichtende Frauen aus, wie z.B.  in Safyie Can in ihrem Gedicht mit dem Titel  "Dichterinnen":

Dichterinnen sind verlegen
Dichterinnen retten Maikäfer
Dichterinnen verschanzen sich 
und drehen sich um die eigene Achse 
im Elfenbeinturm. 
[...]
Dichterinnen schlecken Schlumpfeis
Tragen übergroße Brillen
epilieren sich die Beine 
und rauchen Gras.

2. und 4. Strophe des Gedichts "Dichterinnen" von Safyie Can. Aufgenommen in der grossen Anthologie hg. von Anna Bers: Frauen I Lyrik. Ditzingen:Reclam Verlag 2020, S. 659f. 

Mein persönliches Fazit zu Ulrike Draesners "what is poetry?" Alltägliches Multi- und Muttitasking ist bestens geeignet für ein Gedicht übers Dichten. 

Klaus Merz: Ein Meister der Verdichtung 

Gedichte können gemäss Klaus Merz einen Freiraum schaffen, der sich nicht mit dem Vorhandenen, dem schon Bedachten begnügt. Ein Gedicht kann beim Lesen Bedeutungen erhalten, die im Schreibprozess nicht so bedacht wurden. Wenn heutige Lesende in diesen Tagen ein Kriegsgedicht aus dem 30-jährigen Krieg lesen, kann dieser Text  für sie eine Bedeutung erlangen, an die damals gar nicht gedacht werden konnte. Dies ist indes keine Einladung zu geschichtsvergessenen Gedichtinterpretationen. Damit ist auch kein Freipass gemeint, dass die Interpretation beliebig und vom Text losgelöst stattfinden kann. 

Mit dem Neologismus "Denk-Fortsätze" wird in Klaus Merz' Text deutlich, dass das Gedicht über das Denken hinausgehen kann. Dichten als 'Denken' in einer anderen Dimension - in einer poetischen Dimension? Merz ist jedoch ein Dichter mit Bodenhaftung, der immer wieder vom ganz Konkreten ausgeht. Und der zuweilen die Wirklichkeit mit einer Wendung ins Phantastische verformt. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn Merz in anderen Texten  über die Behinderung und den Tod seines Bruders oder über die eigene Vergänglichkeit spricht. Oft begegnen wir in Merz' Texten Doppeldeutigkeiten. Im obigen Gedicht ist "das Bedachte"  eine solche Doppeldeutigkeit: Gedichte gehen nicht nur über das Denken hinaus, sondern sie gehen über das von einem Dach Geschützte hinaus. Mit dem Dichten wird  über die menschliche Komfortzone überschritten. 

Merz geht immer mit Bedacht und sehr sparsam mit Worten und Publikationen um. 1997 wurde eine grössere Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam: "Jakob schläft" ist ein 75-seitiger Text, der mit der Gattungsbezeichnung "Eigentlich ein Roman" veröffentlicht. wurde. Eigentlich eine Familiengeschichte, wie das in viele Romanen vorkommt. Mit diesem sehr kurzen 'Roman' zeigte sich Klaus Merz schon damals als Meister der Verdichtung.  Eine Verdichtung, in der aber immer wieder genug Raum bleibt für das ganz Konkrete, für das Körperliche. 

So unterschiedlich die beiden poetologischen Gedichte beim ersten Lesen wirken mögen, sie haben eines gemeinsam: Dichtung wird genährt von konkreter Erfahrung und geht weit darüber hinaus. Und Dichten ist mehr als Denken. Dadurch bieten sich zuweilen unerahnte Freiräume. Lichtschimmer, auch wenn das Leben manchmal dunkel ist und der Mund bzw. die Sprache dunkel bleibt. 




Ulrike Draesner *1962 lebt und schreibt in Leipzig und Berlin. Sie ist Dozentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Vielfach ausgezeichnet, u.v.a. erhielt sie 2014 den Joachim-Ringelnatz-Preis für ihr lyrisches Gesamtwerk.

Klaus Merz  *1945  lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Unterkulm. Für seine Prosa und seine Gedichte erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.v.a. erhielt er 2004 den Gottfried-Keller-Preis. 

Mit dem Maler und Zeichner Heinz Egger *1937 (Burgdorf/Schweiz) verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit (Umschlagsgestaltung, bildnerische Elemente zu den Texten, gemeinsame Ausstellungen).

Beispiel eines Buchumschlags von Heinz Egger
Hanna Johansen (1939-2023)
Gedicht des Monats von Odile Kennel

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Freitag, 26. April 2024